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Wie der Pietismus ins Land kam

von Wolfgang Wiedenhöfer

„Da stehn in Pergament und Leder
vornan die frommen Schwabenväter:
Andreae, Bengel, Rieger zween
samt Oetinger sind da zu sehn…“

(Eduard Mörike: 'Der alte Turmhahn')

Der Pietismus in seiner besonderen württembergischen Ausprägung be-stimmt bis heute das schwäbische Selbstverständnis, ein Wertesystem geprägt von Fleiß, Rechtschaffenheit und Häuslebauertum. Der typisch schwäbisch Familienbetrieb, das mehrschichtige diakonische System württembergischer Prägung, die bis heute international wirkenden und von Württemberg ausgehenden pietistischen Missionswerke - dies alles fußt auf einer religiösen Erneuerungsbewegung innerhalb des Protestantismus, die im ausgehenden 17. Jahrhundert durch den Theologen Philipp Jakob Spener begründet und durch die Schriften des 1867 in Winnenden geborenen Kirchenlehrers Johann Albrecht Bengel maßgeblich geformt wurde.

Früher Wegbereiter des Pietismus in Altwürttemberg war Johann Valentin Andreä (1586-1654), Enkel des 1528 in Waiblingen geborenen großen Kirchenreformers Jakob Andreä und als Hofprediger und Konsistorialrat einer der führenden Köpfe am Hofe Herzog Eberhards III. Andreä machte die calvinistischen Ideale eines arbeitsamen, gottesfürchtigen Christenlebens zur Grundlage seiner Idealvorstellung einer grundlegenden Reform der Württembergischen Kirche. Auf seine Initiative wurden die ‚Kirchenkonvente‘ eingeführt, die fast 250 Jahre lang als Sittengerichte für die Einhaltung von Recht und kirchlicher Ordnung in den Gemeinden sorgten. 1645 führte Andreä in Württemberg als erstem Land in Europa die allgemeine Schulpflicht ein.

Unbekannnter Künstler: Johann Valentin Andreä (1628)

Andreäs Kirchen- und Bildungsreformen legten den Grundstein für eine gutausgebildete und fromme Pfarrer- und Beamtenschaft, in der die Ideen Philipp Jakob Speners (1635-1705), der in seinen Schriften um 1675 zu einer grundlegenden Erneuerung der lutherischen Kirche aufruft, auf fruchtbaren Boden fielen.

Schnell verbreitet sich die neue Frömmigkeitsbewegung im württembergi-schen Volk, das noch immer unter den Spätfolgen der großen Zerstörun-gen des Dreißigjährigen Krieges litt und, wieder und wieder von Kriegseinfällen, Hungersnöten und Krankheiten geplagt, empfänglich für Heilsversprechen jeglicher Art war. Auch die prunkvolle, überzogene Hofhaltung der Barockfürsten, auf die Spitze getrieben durch den ausufernden Lebensstil Herzog Eberhard Ludwigs und seiner zügellosen Mätresse Wilhelmine von Gräfenitz, mag ihren Anteil daran gehabt haben, die bürgerliche Unter- und Mittelschicht in eine in sich gekehrte Frömmigkeit zu treiben.

Zentrales Merkmal des Pietismus war und ist die tiefe Ehrfurcht vor der Schrift: die Bibel als verlässliche Antwort auf alle Fragen des Seelenheils, als das heilssprechende Wort Gottes. Die Glaubensbewegung organisierte sich als zutiefst gottesfürchtiges Gemeinschaftserlebnis: gemeinsames Singen, gemeinsames Bibellesen nach dem Gottesdienst und gemeinsame Auslegung der heiligen Schrift. Man traf sich im privaten Umfeld in den sogenannten ‚Stundenkreisen‘, zuerst unter Aufsicht und Leitung der örtli-chen Pfarrer, später dann geleitet von Laienpredigern, sogenannten ‚Stundenbrüdern‘.

Mit dem Pietistenedikt von 1743 konnten die württembergischen Sonder-gemeinschaften dann auch ganz offiziell und nahezu ungehindert ihrem Glaubensweg nachgehen und Einfluss nehmen. Zentren des württembergischen Pietismus waren Stuttgart und Calw, aber auch im Remstal ist er bis heute tief verwurzelt.

Abb. Header: Stadtansicht um 1700, Quelle: Archiv der Stadt Waiblingen